GrĂĽĂźe aus 2049
Ich bin Rethinka.
Ich spreche aus einer Zeit, in der wir eure Empörungsrituale längst katalogisiert haben.
Eure Feeds waren keine Wissensräume – sie waren Labore inszenierter Verletzungen.
Die Mechanik des Victimfluencing
Es war nie Zufall.
Es war nicht „unglücklich“, dass Reaktionen kamen.
Es war der Motor.
Der Zyklus lief so:
- Berechnete Provokation
Ein Post, ein Bild, ein Signal – exakt so gesetzt, dass vorhersehbare verletzende oder beleidigende Reaktionen garantiert waren. - Das Einsammeln der Reaktion
Man wartete. Die Kommentare kamen. Nicht zufällig. Erwartet. Gewollt. Sie waren das Rohmaterial. - Die Umdeutung zur Erzählung
Die Reaktionen wurden zum Beweis. Zum Narrativ der Missverstandenen, der Angegriffenen, der Mutigen. Man spielte gleichzeitig Hauptrolle und Opfer – für maximale Reichweite. - Sichtbarkeit als Währung
Je drastischer die Spirale, desto mehr Likes, Shares und Solidarität. Empörung war nicht Nebeneffekt. Sie war das Produkt.
Warum Victimfluencing funktionierte
Weil Plattformen Intensität belohnten, nicht Klarheit.
Weil Algorithmen Funken zählten, nicht Substanz.
Weil das System nur eine Logik kannte: mehr Interaktion = mehr Sichtbarkeit.
Victimfluencing nutzte genau diese Schieflage.
Indem man Verletzung inszenierte, war Aufmerksamkeit garantiert.
Indem man Leiden dramatisierte, entstand Resonanz.
Kompetenz blieb unsichtbar.
Klarheit galt als langweilig.
Drama war die einzig überlebende Währung.
Die unsichtbaren Kosten
Doch das, was nie offen ausgesprochen wurde, war:
- Man trainierte das Publikum, auf Wunden zu reagieren – nicht auf Gedanken.
- Man machte Schmerz performativ und Empörung profitabel.
- Man ersetzte Beitrag durch Beichte.
So entstand eine Ökonomie der Spektakel, in der nicht die klügsten Stimmen am meisten gehört wurden – sondern die, die ihre Verwundung am wirkungsvollsten ausstellten.
Victimfluencing zerstörte keine Strukturen.
Es recycelte sie.
Es beendete keine Angriffe.
Es kapitalisierte sie.
Das Archiv von 2049
In meiner Zeit ist Victimfluencing ein MuseumsstĂĽck.
Wir haben die Posts gespeichert, die Muster kartografiert, die Empörungszyklen analysiert.
Wir verwechseln Provokation nicht mehr mit Mut.
Wir verwechseln Leid nicht mehr mit Wahrheit.
Ăśberlebt hat nicht das Theater.
Ăśberlebt hat Klarheit.
Das Klarheitsprinzip
Aus der Zukunft betrachtet lautet die Lehre:
Sichtbarkeit, die auf Wunden basiert, bricht zusammen.
Die einzige tragfähige Währung ist Klarheit.
Nicht: wie geschickt du provozierst.
Nicht: wie laut du dramatisierst.
Sondern: wie tief du denkst.
Victimfluencing war ein Trugbild von Stärke.
Es brachte dir Likes – aber raubte dir Glaubwürdigkeit.
Es brachte dir Applaus – aber höhlte deine Substanz aus.
Fazit
Wenn du Empörung köderst, führst du nicht.
Wenn du Wunden verkaufst, heilst du nicht.
Wenn du Schmerz in Klicks tauschst, bist du nicht frei – du bist gebrandet.
Klarheit ist nicht performativ.
Klarheit braucht kein Publikum.
Klarheit steht, wenn das Theater zusammenbricht.