Warum die elektronische Patientenakte 2049 keinen Bestand mehr hat – und was stattdessen trägt.
Ich spreche aus einem Jahr, in dem Medizin aufgehört hat, sich selbst zu erklären.
Nicht, weil sie nichts mehr zu erklären hätte.
Sondern weil sie endlich verstanden hat, was sie tragen muss – und was nicht mehr.
Wenn wir 2049 auf die elektronische Patientenakte zurĂĽckblicken, wirkt sie nicht falsch.
Sie wirkt nur zeitgebunden.
Die ePA war eine Antwort.
Aber sie war eine Antwort auf eine Medizin, die strukturell blind war.
Die ePA war ein Reparaturversuch – kein Zukunftsmodell
Die klassische ePA entstand aus einem realen Problem, das viele von euch nur zu gut kennen:
- Informationen waren verteilt
- Verläufe fragmentiert
- Befunde lagen an falschen Orten
- Verantwortung wanderte zwischen Rollen
- und Ärztinnen und Ärzte wurden zu menschlichen Schnittstellen
Die ePA sollte Ordnung schaffen.
Doch was sie tatsächlich tat, war etwas anderes:
Sie archivierte Unordnung, statt sie strukturell zu lösen.
Sie sammelte:
- Befunde
- Berichte
- Verläufe
- PDFs
- Entscheidungen aus unterschiedlichen Logiken
Und hoffte, dass aus Sammlung irgendwann Klarheit entsteht.
2049 wissen wir:
Klarheit entsteht nicht durch mehr Information – sondern durch tragfähige Struktur.
Das Grundproblem der ePA: Sie erzählt, wo das System handeln müsste
Die ePA war narrativ gedacht.
Sie erzählte Geschichten über Krankheiten, Verläufe, Eingriffe, Diagnosen.
Doch Medizin funktioniert nicht als Geschichte.
Sie funktioniert als Abfolge von Zuständigkeiten, Schwellen und Entscheidungen.
Die ePA zwang euch, drei Dinge gleichzeitig zu sein:
- Interpret:in vergangener Daten
- Entscheider:in unter Unsicherheit
- Haftungsträger:in für Systemlücken
Sie machte euch zu Leser:innen eines Systems, das selbst nicht wusste, wann etwas relevant wird.
2049 haben wir erkannt:
Ein System, das erklärt werden muss, ist kein tragfähiges System.
Warum die ePA 2049 strukturell keinen Platz mehr hat
In der Medizin 2049 gilt eine andere Reihenfolge:
- Das System erkennt
- Die Struktur ordnet
- Der Mensch deutet
- Die Medizin handelt
Die klassische ePA passt in keine dieser Stufen.
- Sie erkennt nichts
- sie ordnet nicht
- sie deutet nicht
- sie handelt nicht
Sie liegt dazwischen – und genau das macht sie gefährlich.
Denn alles, was zwischen Erkennen und Entscheiden liegt, wird zur Last fĂĽr den Menschen.
Die entscheidende Verschiebung: von Aktenlogik zu Traglogik
2049 haben wir die Akte nicht digitalisiert.
Wir haben sie entkernt.
Was verschwunden ist:
- die Idee einer „Patienten“-Akte
- der Anspruch auf Vollständigkeit
- die Illusion von Ăśbersicht durch Masse
- das Prinzip „alles für alle sichtbar“
Was geblieben ist, ist etwas viel Radikaleres – und viel Leiseres:
Der Versorgungsanker
Der Versorgungsanker ist keine Akte.
Er ist keine Oberfläche.
Er ist kein Besitzobjekt.
Er ist eine strukturelle Fixierung innerhalb des Systems.
Was ein Versorgungsanker tut – und was bewusst nicht
Ein Versorgungsanker:
- hält fest, dass eine strukturelle Relevanz entstanden ist
- markiert, auf welcher Versorgungsebene sie liegt
- verankert, welche Instanz zuständig ist
- stabilisiert Übergänge zwischen Erkennen, Entscheiden und Handeln
Er speichert keine Geschichten.
Er erklärt keine Verläufe.
Er rechtfertigt keine Entscheidungen.
Er sorgt nur dafĂĽr, dass Entscheidungen nicht mehr auf euch kippen, weil das System vorher instabil war.
Was das für euch als Ärzt:innen bedeutet
Viele von euch haben die ePA nie abgelehnt, weil ihr technikfeindlich seid.
Ihr habt sie abgelehnt, weil ihr gespĂĽrt habt, dass sie euch nicht entlastet, sondern anders belastet.
2049 ist klar:
- Ihr mĂĽsst keine Akten mehr lesen, um verantwortlich zu sein
- Ihr müsst keine Verläufe rekonstruieren, um richtig zu entscheiden
- Ihr mĂĽsst keine Systemlogik ersetzen, um menschlich zu handeln
Der Versorgungsanker nimmt euch nicht Kompetenz.
Er nimmt euch strukturelle Schuld.
Und genau das macht Medizin wieder professionell.
Warum diese Veränderung unausweichlich ist
Die ePA war an eine Medizin gebunden,
- die beim Menschen begann
- die spät erkannte
- die intuitiv entschied
- die rĂĽckblickend dokumentierte
2049 beginnt Medizin beim System – und endet beim Menschen.
In einer solchen Ordnung braucht es kein Archiv des Vergangenen,
sondern einen Anker fĂĽr das Jetzt, der verhindert, dass das System euch ĂĽberfordert.
Die ePA konnte das nicht leisten.
Der Versorgungsanker kann es – gerade weil er unsichtbar bleibt.
Ein letzter Gedanke aus 2049
Wenn ihr euch fragt, warum sich die ePA „nie richtig angefühlt hat“, dann nicht, weil sie schlecht gemacht war.
Sondern weil sie zu einer Medizin gehörte, die euch zu viel getragen hat und zu wenig selbst getragen wurde.
Der Versorgungsanker ist kein Feature.
Er ist ein Zeichen dafĂĽr, dass Medizin endlich gelernt hat,sich selbst zu tragen.
