Der Mythos vom überarbeiteten Arzt
Sie arbeiten bis spätabends, hetzen von Raum zu Raum, kämpfen mit Formularen, kämpfen mit Patienten, kämpfen mit sich selbst. Deutschlands niedergelassene Ärztinnen und Ärzte geben sich gern als tragische Helden einer überkomplexen Welt. Bürokratie, Digitalisierung, Personalmangel, Patientenflut – das Bild ist klar: Der Feind steht draußen.
Aber was, wenn der eigentliche Feind längst drinnen sitzt?
Was, wenn Zeitmangel kein Schicksal ist, sondern das Ergebnis schlechter Führung?
Was, wenn euer Stress keine Systemfrage, sondern eine Selbstverantwortungsfrage ist?
Dann bricht ein Kartenhaus zusammen. Und genau das wird jetzt passieren.
Die große Selbsttäuschung: Es liegt nicht an den anderen
Es ist bequem, in den Chor der Klagenden einzustimmen. Auf Podien, Kongressen und in Fachzeitschriften herrscht selten Widerspruch, wenn Ärztinnen und Ärzte ihre Not beklagen. Und ja, das System ist belastend. Aber wer das als endgültige Erklärung akzeptiert, hat schon verloren.
Denn: Die Mehrheit der haus- und fachärztlichen Praxen in Deutschland setzt im Schnitt weniger als 50 % des Best-Practice-Standards eines modernen Praxismanagements um.
Ein valider, praxiserprobter Katalog an bewährten Instrumenten und Verhaltensweisen liegt längst auf dem Tisch. Er definiert glasklar, was es braucht, um in einer Arztpraxis effizient, planbar und resilient zu arbeiten. Und er zeigt: Wer ihn ignoriert, produziert seine Überforderung selbst.
Die bittere Wahrheit lautet:
Nicht das System überfordert euch – ihr überfordert euch selbst.
Ihr habt keine Zeit? Ihr nehmt sie euch nicht.
Die ärztliche Selbstinszenierung als Opfer eines zu schnellen, zu digitalen, zu bürokratischen Systems blendet die eigene Verantwortlichkeit aus. Das ist nicht nur bequem – es ist gefährlich. Denn so bleibt die Praxisorganisation auf einem Niveau stehen, das mit moderner Führung wenig zu tun hat.
Stellt euch vor, ein Unternehmen würde über Jahrzehnte hinweg keine klaren Rollen, keine schriftlichen Prozesse, keine strukturierten Tagesbriefings, keine Personalentwicklung, keine digitalen Schnittstellen und keine Feedbacksysteme einführen – und sich dann über Effizienzeinbrüche wundern.
Genau das passiert täglich in Deutschlands Arztpraxen.
Ein Industriebetrieb, der sich so organisiert, wäre längst insolvent.
Eine Klinik, die so arbeitet, bekäme keinen Versorgungsauftrag.
Aber eine Einzel- oder Gemeinschaftspraxis? Die glaubt, ihr genüge die ärztliche Kompetenz. Und scheitert damit regelmäßig an sich selbst.
Die stille Arroganz des „Ich bin Arzt“
Der tiefere Grund für diese Managementverweigerung liegt oft in einem Denkfehler:
Die Vorstellung, medizinische Expertise könne organisatorisches Denken ersetzen.
Doch wer glaubt, mit dem Dr. med. auch ein automatisches Führungszertifikat erhalten zu haben, irrt fundamental. Eine Arztpraxis ist keine Therapiehöhle, sondern ein komplexes Dienstleistungsunternehmen mit extremen Echtzeit-Anforderungen. Wer das nicht begreift, spielt Russisch Roulette mit seiner eigenen Belastbarkeit – und der seiner Mitarbeitenden.
Die Realität ist:
Viele Ärztinnen und Ärzte haben nie gelernt, ihre eigene Praxis als System zu betrachten.
Sie sehen Symptome, keine Ursachen.
Sie reagieren, statt zu steuern.
Sie sind im Behandlungsmodus – auch wenn Organisation gefragt wäre.
Diagnose: Führungsschwäche. Therapie: Rethink Management.
Der Begriff „Praxismanagement“ wird in Arztkreisen oft belächelt oder in eine Ecke mit „Marketing“, „Patientenbindung“ oder „Abrechnungsoptimierung“ gestellt. Was für ein Irrtum. Gutes Praxismanagement ist keine Kür – es ist Grundversorgung. Für das System, das euch versorgt.
Ein paar unbequeme Fragen zur Anamnese eures eigenen Alltags:
- Gibt es in eurer Praxis tagesaktuelle Ablaufpläne mit Verantwortlichkeiten?
- Werden Arbeitsprozesse dokumentiert, regelmäßig überprüft und angepasst?
- Findet ein strukturiertes Teamfeedback mindestens quartalsweise statt?
- Gibt es klare Regeln zur Aufgabenverteilung und Delegation – oder basiert alles auf Gewohnheit und Improvisation?
- Wird mit Kennzahlen gearbeitet, um Auslastung, Wartezeiten und Teamzufriedenheit zu messen?
- Ist eure digitale Infrastruktur auf die Praxisprozesse abgestimmt – oder umgekehrt?
- Findet echtes Onboarding für neue Mitarbeitende statt?
- Gibt es ein Timeboxing für die ärztliche Arbeit – oder regiert der Terminkaos?
Wenn du hier nicht jede Frage überzeugt mit „Ja“ antwortest, hast du kein Zeitproblem – du hast ein Managementproblem.
Die größte Wissenslücke: Analyse der eigenen Arbeit
Es ist paradox: Ärztinnen und Ärzte diagnostizieren täglich komplexe Krankheitsbilder – aber analysieren ihre eigene Arbeitsweise kaum.
Sie erkennen Anzeichen, aber keine Muster.
Sie spüren Symptome, aber kein Systemversagen.
Dabei ist eine Arztpraxis ein perfekter Ort für analytisches Denken. Nur eben nicht nur medizinisch – sondern organisatorisch.
Die meisten Ärztinnen und Ärzte führen ihre Praxis nach Gefühl, Intuition und Tradition. Nicht nach Zahlen, nicht nach Standards, nicht nach validierten Modellen. Es gibt kaum fundierte Nachbesprechungen. Kaum iterative Verbesserungsprozesse. Kaum Erkenntnisroutinen.
Und noch weniger: systematische Ursachenanalysen für Zeitverluste, Wiederholungsfehler oder Teamüberlastung.
Kurz gesagt:
Ihr analysiert alles – außer euch selbst.
Schluss mit der Klage. Start mit der Verantwortung.
Wir brauchen eine neue Denkhaltung im Gesundheitswesen. Eine, die aufhört, Schuldige zu suchen – und beginnt, Verantwortung zu übernehmen.
Wer den validierten Best-Practice-Katalog kennt – und ihn nicht anwendet –, verliert jedes Recht zur Klage über Zeitmangel.
Denn:
Zeit entsteht nicht durch Bitten. Sie entsteht durch Denken.
Effizienz entsteht nicht durch mehr Personal. Sie entsteht durch bessere Führung.
Resilienz entsteht nicht durch Jammern. Sie entsteht durch konsequente Struktur.
Wer seine Praxis führen will, muss sie verstehen.
Wer sie verstehen will, muss sie analysieren.
Wer sie analysieren will, muss sie sich ehrlich anschauen.
Und genau hier beginnt die unbequemste aller Wahrheiten:
Die Überforderung deutscher Arztpraxen ist kein unausweichliches Schicksal – sie ist die Folge eines unterentwickelten Managements.
Rethink your Praxis. Or live in self-inflicted stress.
Was also tun? Ganz einfach. Den eigenen Denkrahmen verändern. Vom Behandler zum Gestalter. Vom Opfer zum Organisator. Vom Jammernden zum Führenden.
Der Best-Practice-Standard im Praxismanagement ist kein Idealbild. Er ist die Mindestausstattung für funktionierendes Arbeiten unter Druck. Wer ihn kennt – und ignoriert –, entscheidet sich aktiv für Chaos.
Und wer sich für Chaos entscheidet, darf sich über seine Folgen nicht beschweren.
Deshalb gilt ab heute:
Hör auf zu klagen. Fang an zu analysieren. Und dann: Führe deine Praxis so, wie du behandelt werden willst.
Denn wer Organisation als Nebensache sieht, macht seine Hauptsache irgendwann kaputt.
Bereit, neu zu denken? Dann ist jetzt der Moment.
Nicht morgen. Nicht irgendwann. Sondern jetzt.
Denn dein Zeitproblem ist lösbar – aber nur, wenn du aufhörst, es anderen zuzuschreiben.
Rethink your Praxis.
Everything else is malpractice.